Katrin: Herr Bisky, anlässlich der Feiern zum 200. Todestag von Heinrich von Kleist rückt das Interesse vermehrt wieder in die Öffentlichkeit. Was fasziniert Sie persönlich an dem Individuum Kleist?
Jens Bisky: Mich fasziniert an Kleist, dass man keinen anderen in seiner Zeit findet, der alle Widersprüche so auf sich zieht und in seinem Werk vereinigt. Also die Widersprüche zwischen
Liebe und Krieg, zwischen Individuum und Gesellschaft. Mich fasziniert nicht nur, dass er diese Widersprüche gestaltet, sondern auch wie er sie gestaltet.
Er hat ja eine ungeheure kräftige, schöne und komplexe Sprache, Sie finden kaum deutsche Sätze, die so viel Informationen auf so knappem Raum bieten und trotzdem noch schön zu lesen sind. Er hat
die Sätze so lange gequält, bis sie schön sind. Und letztlich fasziniert mich an Kleist, solange man sich mit ihm auch beschäftigen mag, er trotzdem immer ein Rätsel bleibt. Es hängt sehr vom
Lebensalter ab und von der Situation, in der man ihn liest, man wird immer wieder etwas Neues entdecken.
Kleist betonte stets, dass der Mensch sein Bestes erst in der Not erreichen kann. In welcher Art und Weise spiegelt sich diese Auffassung in seinem Leben und seinem Werk wider?
In seinem Leben spiegelt sich das darin wider, dass er nach der preußischen Niederlage von 1806 allmählich Anschluss an Patriotenkreise sucht und dann durchaus praktisch, etwa als Spion und
Kurier, versucht einen Volksaufstand gegen Napoleon mit herbeizuführen. Dass er einen Kampf um jeden Preis sucht.
Man kann das auch an anderen Situationen sehen. Als er die Berliner Abendblätter in Berlin herausgibt, Ende des Jahres 1810, Anfang des Jahres 1811, schafft er es in kürzester Zeit, er braucht
nicht mal 8 Wochen, um alle Autoritäten in der Stadt gegen sich aufzubringen, die französische Zensur, den preußischen Hof, den damals allmächtigen Staatskanzler Hardenberg, den Intendanten des
königlichen Schauspiels und einige mehr. Er agiert, und das macht ihn so interessant, als müsse er auf Machtverhältnisse, auf Kräftekonstellationen überhaupt keine Rücksicht nehmen.
In seinem Werk merkt man das daran, dass er kaum einer seiner Hauptfiguren den Zusammenbruch der bekannten Welt erspart. Die müssen sich alle in extremen Krisensituationen bewähren. Und
„Krisensituationen“ ist beinahe noch zu schön gesagt. Die erleben den Zusammenbruch ihrer Welt und müssen sich in diesem Zusammenbruch behaupten und aus diesem Zusammenbruch wiedergeboren werden
oder sich selbst als Ich, als Charakter, wieder bewähren.
Sie sprachen gerade Krisensituationen an, welche Bedeutung hatte das preußische Militärwesen, bei dem Kleist sich als Werkzeug degradiert gefühlt hat und auch die Zeit an der Grande École in
Potsdam, also der heutigen Schule des Zweiten Bildungsweges Heinrich von Kleist, für den Dichter persönlich?
Das preußische Militär war seine natürliche Umwelt, er ist als Sohn eines preußischen Offiziers geboren worden und es war eigentlich vorgesehen, dass er als preußischer Offizier sein Leben
verbringen und als preußischer Offizier sein Leben bestimmen würde.
Alles Wesentliche was er gelernt hat, hat er zunächst beim Militär gelernt. Auch seine wissenschaftlichen Interessen hat er als Subaltern Offizier hier in Potsdam entwickelt und befriedigt. Seine
Freunde, seine wichtigen Freunde, sind auch Militärangehörige oder unterhalten Beziehungen zum Militär. Er ist im Grunde immer ein preußischer Offizier geblieben, auch wenn er auf Distanz zum
Militär gegangen ist.
Seine Ausbildung hier in Potsdam hat für ihn eine wichtige Rolle gespielt, weil sie ihn bestärkt hat in dem Versuch zu sagen, „ich werde jetzt nicht mehr mich auf den Platz stellen lassen, auf
den man mich stellen will, sondern ich entscheide selbst, welcher Platz ist der, der am besten zu mir passt, auf dem ich glücklich werden kann und der am ehesten mit einer vernünftigen Ordnung
der Welt zu vereinbaren ist“.
Und da gibt es dann hier in Potsdam in der Stadtschule die berühmte Szene, wo er mathematischen Beweis demonstrieren soll, es nicht kann und merkt, er kann es nicht unter dem Druck und der
Anleitung eines Lehrers, er muss es selber Zuhause für sich erkennen und für richtig befinden. Und dieses sich selbst, das eigene Leben zurechtlegen, sozusagen ein eigenes Drehbuch für das eigene
Leben schreiben. Das wird eben dann zur Losung seines Lebens.
In Ihrer 2007 erschienen Kleistbiographie ordnen Sie Heinrich von Kleist die rhetorische Figur der Hyperbel zu und betonen damit seine Modernität in diesem Werk. Warum sollten sich
Studierende Ihrer Meinung nach mit dem kulturellen Erbe dieses Dichters Heinrich von Kleist beschäftigen?
Sie sollten es, weil sie etwas verpassen würden, wenn sie es nicht täten. Mir ist es so gegangen, seitdem ich das erste Mal Kleist gelesen habe, von diesem Werk fasziniert war und es mich nicht
mehr losgelassen hat. Man muss die Penthesilea, den Michael Kohlhaas und die Marquise von O... mal kennengelernt haben. Sie sind übrigens nicht nur hilfreich, wenn man Kleist in seiner Zeit
verstehen will, sondern sie kehren in verschiedenen Abwandlungen in der gesamten späteren Literatur- und Kulturgeschichte wieder.
Klar ist es ein Autor, der sehr anregend auf andere gewirkt hat, ein Lieblingsautor anderer Autoren und Künstler. Insofern würde ich dessen Werke jedem nahelegen. Ich würde aber auch sagen, wer
Kleist liest und diese Faszination nicht spürt, der solle es lassen und später wieder versuchen. Nichts ist schlimmer als jemanden dazu zu zwingen. Und es wäre auch völlig unkleistisch jemanden
zu einer Begeisterung zwingen zu wollen, wenn er sie nicht spürt.
Wir danken der Landeshauptstadt Potsdam, besonders dem Kulturamt, für die finanzielle Förderung des Kleist-Jahres 2011.
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