Grußwort: Miriam Sachs

Ich hatte die Schule nie zuvor gesehen. Mich immer gefragt, wo der junge Kleist in der fremden Stadt zur Schule gegangen war, aber daran gewöhnt, dass die Kleistorte in der Regel doch immer bereits von der Bildfläche verschwunden sind, war ich nie auf die Idee gekommen, dass der Ort in der Realität noch existierte.


Die Altstadthäuserzeile kannte ich, die kleinen bonbonfarbenen Miniaturhäuser liebe ich an Potsdam, aber die Tür zu öffnen, und zu wissen, dass das der kleine Heinrich – ja okay, der Teenager! – ebenfalls getan hat Tag für Tag, hat mich berührt. Klar, das sind diese Museumshandgriffe, die einen mit Ehrfurcht erfüllen.


Was mich an diesem Septembertag aber umgehauen hat, war, dass diese Schule prallgefüllt mit Leben ist. Ich habe noch nie einen Kleistort gesehen, egal ob Museum, Institution, Theater, an dem die Verbundenheit zu Heinrich von Kleist so greifbar ist. Das Treiben, das Treppauf Treppab in Vorbereitung, die Liebe und vor allem: den Alltag. Ich finde das ungewöhnlich.


Ganz besonders im Kleistjahr 2011, in dem Kleist ja nun mal Programm ist, ein Muss, habe ich oft das Gefühl gehabt, die Veranstalter fühlen sich in der Pflicht, erschlagen sich gegenseitig oder finden kein Publikum. In Potsdam stimmte alles. Die Verbundenheit der Studenten fällt sofort ins Auge, ob jetzt zu Heinrich persönlich oder dazu, etwas auf die Beine zu stellen. Wir hatten mit einem kleinen Schulzimmerchen mit ein paar zwangsverfrachteten Schülern und ein bisschen Touristenpublikum gerechnet. Zwangsverfrachtet wie Kleist selbst damals, in eine Schule, zweiter Bildungsweg.


Erste Wahl Militärkarriere, zwangsweise. Dass er hier mehr gelernt hat als Stillgestanden und wie man sein Gewehr präsentiert, ist bekannt. Grammatik, Musik, Allgemeinbildung. Seltsam. Vielleicht hat er gerade hier seinen eigentlichen Bildungsweg gefunden, in die Sprache gefunden.


Als wir nach der Lesung noch eine kleine Führung bekamen, war es schon dunkel. Der Innenhof mit kleinen Laternen, Kopfsteinpflaster, gesäumt von Beeten, in der Mitte des Hofes die Linde mit der runden Sitzbank. Hier muss er früh oder spät irgendwann mal gesessen haben. Mein Roman, aus dem ich an diesem Abend gelesen hatte versetzt Kleist ins heutige Berlin. In diesem eigenen Kosmos geht es nicht um Historie. Davor habe ich mich immer gedrückt: die authentische historische Wirklichkeit. Wie war es tatsächlich?


In meinen Büchern geht es nicht so sehr darum, sondern eher um die Assoziation einer neuen Welt, in der Versatzstücke aus der Vergangenheit dahintreiben neben Gerümpel der Neuzeit. Umso bewegender war es für mich, diesen Ort zu sehen, der noch aus der Vergangenheit stammt und trotzdem voller heutigem Leben steckt. In diesem Moment stimmten die Welten für mich. Die ferne vergangene Zeit, die Gegenwart, die immer noch voller Begeisterung Platz hat für die kleinen kostbaren Ausnahmeerscheinungen der damaligen Zeit.


Miriam Sachs


Miriam Sachs ist Schriftstellerin, Schauspielerin und Dramaturgin. Wichtigste Konstante in ihrer Arbeit ist Heinrich von Kleist.


zur Veranstaltung


Wir danken der Landeshauptstadt Potsdam, besonders dem Kulturamt, für die finanzielle Förderung des Kleist-Jahres 2011.


© Förderverein Kleist-Schule 2012. Jegliche Art der Vervielfältigung ist nur mit der Erlaubnis der Redaktion gestattet.