Grußwort: Günter Blamberger

Kleist war ein Nomade, sein ganzes Leben lang auf der Suche nach einer Heimat, in der er noch nicht war. Es gibt kein Kleist-Haus, wie es ein Goethe- oder Schillerhaus in Weimar gibt. An Habseligkeiten hat er uns nichts hinterlassen. Von daher war es etwas Besonderes, an einem historischen Ort über Kleist zu sprechen, an einem Ort wie der Kleistschule Potsdam, an einem heißen Frühsommerabend im Juni 2011, vor so vielen Schülern, die Kleist ganz offensichtlich in Herz und Kopf geschlossen hatten und in ihren Fragen ihre Faszination von Kleist verrieten. Es ist vielleicht die Unruhe, die die junge Generation heute verbindet mit einem Autor, der zu seiner Potsdamer Zeit noch glaubte, einem festen Lebensplan folgen zu können, und dann feststellen mußte, dass man in Krisenzeiten lernen muss, sich jeglichen Halts zu enthalten. Wie kann man ein Idealist sein, unerbittlich in seinem Glücksverlangen, zugleich aber ein illusionsloser Beobachter menschlichen Verhaltens? Wie der Todsünde der Trägheit entgehen in einer Gesellschaft, die einem Wartesaal gleicht, in dem nichts mehr erwartet wird? Wie die Energie des Aufbruchs bewahren, über die ersten Enttäuschungen hinweg ins Neue, Unbekannte aufbrechen, statt zum Etuimenschen zu werden?

Das waren Kleists Fragen in seinen Potsdamer Jahren. Zeitgemäß erscheint Kleists Werk gerade darin, dass es mit jungen Lesern heute einen Zustand teilt, der beunruhigend und zugleich kreativ ist. Ich meine den Zustand des Prekären, des Nicht-Gesicherten, Nicht-Stabilisierten, Nicht-Etablierten. Man kennt den Begriff Prekariat heute nur aus der Arbeitswelt, bei Kleist könnte das Prekäre einen Zusammenhang bezeichnen von Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik, der seine Literatur mit den Erfahrungen vieler junger Menschen auf der ganzen Welt verbindet. Kleist bejaht das Prekäre, es hat bei ihm nichts Defizientes, es erfordert zu seiner Bewältigung allerdings risikobereite Menschen, die ihre Sicherheit – so der Titel eines berühmten Aufsatzes von Kleist - Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden gewinnen und auf gut Glück in allen Handlungen einen Anfang setzen, ohne das Ende zu wissen. Schopenhauer hat für sie einen glücklichen Namen gefunden, als er Graciáns Oraculo manual y arte de prudéncia (Handorakel oder Kunst der Weltklugheit) übersetzte. Er nennt sie „antiparastatische Genies“. Die Definition findet sich in der Regel Nr. 56:

„Geistesgegenwart haben. Sie entspringt aus einer glücklichen Schnelligkeit des Geistes. Für sie gibt es keine Gefahren noch Unfälle, kraft ihrer Lebendigkeit und Aufgewecktheit. Manche denken viel nach, um nachher alles zu verfehlen: andere treffen alles, ohne es vorher überlegt zu haben. Es gibt antiparastatische Genies, die erst in der Klemme am besten wirken: sie sind eine Art Ungeheuer, denen aus dem Stegreif alles, mit Überlegung nichts gelingt: was ihnen nicht gleich einfällt, finden sie nie: in ihrem Kopfe ist kein Appellationshof.“[1]

Durch die Begriffe ‚antiparastatisches Genie’ und ‚Stegreif’ koppelt Schopenhauers Gracián-Übersetzung die geistige mit der körperlichen Bewegung. Stegreif ist ein altes Wort für Steigbügel. Wer in den Steigbügeln bleibt, aus dem Stegreif einen Entschluß faßt, spricht etc., der handelt sozusagen in der Bewegung, ohne den Stillstand der Reflexion zu suchen. So gehen Kreativität und Krise zusammen, macht Not erfinderisch. So monströs wie die Krisenzeit um 1800 ist bei Kleist auch das Genie, es folgt keinem Plan, die „Überlegung [...] findet ihren Zeitpunkt“, so Kleist, „ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat“. Für Kleist offenbar in allen Bereichen des Lebens, im Krieg, in der Liebe, in der Dichtung oder im Sport. In seiner Paradoxe Von der Überlegung aus dem Jahre 1810 formuliert er eine Handlungstheorie, die der ‚Generation Prekariat’ heute bekannt vorkommen dürfte:

„Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegner umfasst hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloß augenblicklichen Eingebungen verfahren; und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den Kürzeren ziehen, und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig sein und an seinem Ort sein, zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf, oder welch ein Bein er ihm hätte stellen sollen, um sich aufrecht zu halten. Wer das Leben nicht, wie ein solcher Ringer, umfaßt hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfes, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt: der wird, was er will, in keinem Gespräch, durchsetzen; vielweniger in einer Schlacht.“[2]

Prof. Dr. Günter Blamberger
[1] Baltasar Gracián: Handorakel oder die Kunst der Weltklugheit, aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, mit einem Nachwort hg. von Arthur Hübscher. Stuttgart 1992, Nr. 56.

[2] DKV III, 554f.

Günter Blamberger ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität zu Köln; Leiter des Internationalen Wissenschaftskollegs „Morphomata“; Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und Herausgeber des Kleist-Jahrbuchs.

Wir danken der Landeshauptstadt Potsdam, besonders dem Kulturamt, für die finanzielle Förderung des Kleist-Jahres 2011.

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