Epilog: Christian Marschler (2. Vorsitzender des Fördervereins)

Haben Sie etwas Zeit? An einem sonnigen Herbsttag vielleicht? Besuchen Sie das Kleistgrab am Kleinen Wannsee, es lohnt sich. Schalten Sie den Fernseher aus, lassen Sie das Bild der erstarrten Spielshow auf der müden Mattscheibe abklingen, schlüpfen Sie in Ihre Schuhe und den neuen, überraschend günstigen Mantel und sagen Sie eventuell Fragenden, Sie wüssten noch nicht, wann Sie zurück seien.


Steigen Sie in die S-Bahn ein und fahren Sie zur Station Wannsee. Vielleicht müssen Sie umsteigen, scheuen Sie sich nicht, den Blick durch die vollbesetzten Züge schweifen zu lassen. Fühlen Sie das hektische Gedränge beim Umsteigen an den Bahnhöfen, die scheinbar widersinnig daher schwafelnden Mitreisenden, das emsige Herumwischen auf kleinen elektronischen Geräten, die befremdlichen Laute aus dem Kopfhörer neben Ihnen. Blinzeln Sie wegen der Sonne, die durch die Graffiti-verschmierten Zugfenster bricht, bewundern Sie die Farben, die der Abend über die Kulisse der Stadt ausbreitet. Malen Sie Bilder, komponieren Sie Melodien, schaffen Sie Worte aus dem hektisch-wuselnden, kunterbunt-schillernden, ohrenbetäubend-atmenden Berlin, das Sie durchreisen.


Es wird noch in Ihren Ohren nachhallen, wenn Sie die S-Bahn verlassen. Es wird um Ihre Hosenbeine wehen, wenn Sie in die Königsstrasse einbiegen. Es wird mehr Erinnerung als Gefühl sein, wenn Sie den Weg zum Kleistgrab entlang schreiten. Und schließlich, wenn Sie am Rondell haltmachen, den wuchtigen Grabstein betrachten, inmitten der hohen Eichen und Eiben stehen, das klare Wasser des Kleinen Wannsees durch die Baumstämme glitzern sehen, haben Sie die Stadt hinter sich gelassen.


In diesem Moment des Loslassens sind Sie ganz bei ihm. Bei Heinrich von Kleist. Und bei ihr, Henriette Vogel. Zwei Menschen, die einst von der Welt abgeprallt sind, nicht ohne Krater zu hinterlassen, deren Ränder wir noch heute erklimmen und mit jedem Schritt ein Stück von uns selbst erkennen. Umso erschreckender, dass der Weg zweier erstaunlich begabter, erhaben versunkener und erschreckend hoffnungsloser junger Menschen am gegenüberliegenden Ufer endete.


Nun, zugegeben, schwerer Stoff für einen beschwingt-nachdenklichen Ausflug. Sind die Tagesgäste schon weg? Am späten Abend werden die Besucher weniger und irgendwann sind Sie ganz allein im vom Sonnenuntergang seltsam melancholisch gefärbten Anbruch der Nacht. Halten Sie inne. Zurückhaltendes Wipfelrauschen mischt sich mit dem sanften Flüstern des Wassers. Schauen Sie jetzt nicht auf die Uhr, die Bahnen fahren die Nacht durch. Vergessen Sie die Zeit, sehen Sie tastendes Scheinwerferleuchten auf der Brücke, von der aus man auf den Ort des Freitods blicken, die Gaststätte erahnen kann, in der Henriette und Heinrich nächtigten. Wähnen Sie die beiden, überlegen, welcher Blick wohl ihr letzter gewesen sein mag. Welcher Blick ist der Ihre?


Hier ist es inzwischen dunkel geworden. Die Stadt will Sie nicht in Ruhe lassen, schickt Lichter und Geräusche und bauscht sich auf. Lächeln Sie ob dieser Aufmerksamkeitsheischerei. Sie wissen, wo Sie sind, und das wissen Sie auch noch morgen früh, im Schein des Tageslichts, im Kreise des Alltags, im Sog der Pflichten.


Haben Sie etwas Zeit? Denken Sie an Heinrich von Kleist. Sie müssen die Welt nicht aufbrechen wollen, um sie zu durchdringen. Doch wie mannigfaltig sind die Fragen, die gestellt werden können. Wie viele Momente, Schicksale entzünden sich an all den Fragen ihrer Zeit, flammen auf und lodern mit dem Mut einer Vision. Und ob wir uns an diesen Feuern wärmen, deren Funken fangen oder in der Asche Neues säen: Der Horizont, der sich dort drüben vor der Nacht verneigt, hat noch jeden wahrhaft Suchenden daran erinnert, dass eine staunende Frage auf eine faszinierende Antwort das schönste Kompliment an die Suche selbst ist. Und vielleicht haben Sie ja Zeit für Ihre eigene Suche. Zeit für eine Frage mehr. Zeit für ein bisschen Kleist in Ihnen.


Christian Marschler


Wir danken der Landeshauptstadt Potsdam, besonders dem Kulturamt, für die finanzielle Förderung des Kleist-Jahres 2011.


© Förderverein Kleist-Schule 2012. Jegliche Art der Vervielfältigung ist nur mit der Erlaubnis der Redaktion gestattet.